Die Politik muss umbauen – aber wie?
Die Faktoren, die die Wirtschaft seit Jahren lähmen, sind bekannt. Und damit auch die Hebel, etwas zu ändern. Führende Wirtschaftsinstitute appellieren an die neue Regierung, Unternehmensinteressen stärker zu berücksichtigen. Was sie konkret fordern.
Die Krisen der vergangenen Jahre haben die deutsche Wirtschaft hart getroffen. Davon konnten sich die Unternehmen offensichtlich nicht erholen, denn während die Weltwirtschaft nach der Corona-Pandemie um über drei Prozent gewachsen ist, befindet sich die deutsche Wirtschaft in der Rezession. Eine Folge davon ist die steigende Zahl der Insolvenzen: In seiner aktuellen Studie geht das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bis Ende des Jahres 2025 von rund 25.800 Unternehmenspleiten aus. Das sind fast doppelt so viele wie noch vor vier Jahren. Im Jahr 2024 hat Creditreform 22.400 Insolvenzfälle gezählt.
Die IW-Studie macht die Krisen nicht als einzige Treiber für die zunehmenden Pleiten verantwortlich. Vielmehr wird Deutschland als Wirtschaftsstandort zunehmend unattraktiv. Im vergangenen Jahr investierten nach Angaben der Bundesbank ausländische Firmen hierzulande nur knapp 35 Milliarden Euro. Das ist der zweitniedrigste Wert seit 2015.
Diese desolate Lage brachte der schottische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson jüngst in einem Interview im Handelsblatt auf den Punkt: Deutschland sei in die zweite Liga der Wirtschaft abgestiegen. Zu den strukturellen Problemen, die ja nicht neu sind – die marode Infrastruktur, umfassende Bürokratie, träge Verwaltung und geringe Investitionen –, komme, dass sich die Wirtschaft nicht mehr auf billiges Gas aus Russland sowie Exporte nach China und kostenlose Sicherheit aus den USA stützen könne. „Über Jahrzehnte hat Deutschland bei den Investitionen gespart und so den Standort vernachlässigt. Das ist der schwammige Boden, auf dem die Krisen uns so hart treffen“, erklärt Michael Grömling, Leiter Kooperationscluster Makroökonomie & Konjunktur beim IW. Um diese Missstände zu beheben, da sind sich die allermeisten Experten einig, braucht es große Reformen. An Vorschlägen und fachlicher Expertise mangelt es nicht. Was raten die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute? Wie wirken sich die Lockerung der Schuldenbremse und das beschlossene 500 Milliarden Euro schwere Sondervermögen auf die wirtschaftliche Lage aus?

Das Übel bei der Wurzel packen
Zunächst die allgemeine Diagnose: Es sind vor allem das schwache Exportgeschäft, die Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit, die Investitionsschwäche aufgrund geopolitischer Unsicherheiten und die wenig investitionsorientierten Rahmenbedingungen in Deutschland, die die Wirtschaft ausbremsen. Dazu kommt die Baukrise wegen hoher Bau- und Finanzierungskosten und last but not least die Konsumzurückhaltung. Und seit Anfang April wirken sich die US-Zollpakete in Höhe von 20 Prozent auf fast alle Waren aus der EU erheblich auf die deutsche Exportwirtschaft aus.
„Die neue Regierung muss die privatwirtschaftlichen Investitionsausfälle und ihre Ursachen angehen und damit einen echten Neustart für wirtschaftliche Entwicklung durch technologische Modernisierung und Innovationen, für ökonomische Resilienz gegen geopolitische Belastungen und gegen den Klimawandel auslösen“, rät Grömling vom IW. Konkret geht es dabei um die Punkte Steuern und Sozialabgaben, Sicherheit und Kosten der Energieversorgung, Rahmenbedingungen für die Transformation, Regulierungskosten, Arbeitsmarktordnung, Forschungsbedingungen, Modernisierung von Infrastruktur sowie die Garantie und Finanzierung von innerer und äußerer Sicherheit.
Gerade beim Thema Sicherheit fordern die Experten rasches Handeln: Nach Einschätzung des Münchener ifo Instituts gilt es sicherzustellen, dass die freigegebenen Mittel effizient eingesetzt werden und die Schuldenfinanzierung der Rüstung in den kommenden Jahren schrittweise durch Steuerfinanzierung abgelöst wird. Dazu müsse ein mehrjähriger Prozess der Ausgabenumschichtung im Bundeshaushalt eingeleitet werden. Das ist jedoch nicht alles: „Es sind Reformen erforderlich, die zu mehr Arbeitsangebot und dem Aufbau neuer Produktionskapazitäten führen“, sagt Clemens Fuest, Leiter des ifo Instituts in München. Das gelte insbesondere für die Bereiche der Wirtschaft, auf die jetzt zusätzliche staatliche Nachfrage zukommt. „Wenn hier die Kapazität fehlt oder bei der Auftragsvergabe zu wenig Wettbewerb herrscht, werden die Preise steigen“, warnt er.
Innovationen fördern
Auch die Experten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin kritisieren in einem Papier, dass die bisher diskutierten Maßnahmen wie Steuererleichterungen oder eine Senkung der Stromkosten zu kurz greifen, weil sie die strukturellen Probleme nicht lösen. Stattdessen fordern sie eine wettbewerbsorientierte und strategische Industriepolitik, die Innovationen gezielt fördert, Marktverzerrungen vermeidet und den langfristigen Strukturwandel unterstützt, damit der Standort Deutschland für neue Investitionen wieder attraktiv wird.
Von zentraler Bedeutung für die technologische Souveränität und Innovationsfähigkeit Deutschlands sei auch der Ausbau der digitalen Infrastruktur in den Bereichen KI, Cloud-Technologien und Super-Computing. Dabei sei eine europäische Zusammenarbeit entscheidend, um Fragmentierung zu vermeiden und eine resiliente, innovationsgetriebene Wirtschaft zu schaffen. Hier sind auch die Unternehmen selbst gefordert. Sie sollten Programme wie die Important Projects of Common European Interest (IPCEI), mit denen die EU strategische Schlüsseltechnologien fördert, gezielt nutzen.
„Innerhalb des EU-Binnenmarktes muss die Fragmentierung der Märkte für neue Technologien, Digitalprodukte und Dienstleistungen abgebaut werden, damit junge Unternehmen schneller wachsen können“, sagt Dirk Dohse, Direktor des Forschungszentrums Innovation und internationaler Wettbewerb am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW). Im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA wagen hierzulande nur wenige Menschen den Schritt zum Unternehmertum. Vor allem der Fachkräftemangel und die hohen Auflagen für Unternehmen halten viele davon ab. Aber auch eine abnehmende Qualität der Bildung und ein schwaches Wachstum der Arbeitsproduktivität machen den Unternehmen zu schaffen.
Investitionen in Bildung
Staatliche Investitionen in Bildung und Ausbildung sollten daher höchste Priorität haben, fordert Hanna Hottenrott, Ökonomin beim Leibniz-Zentrum für Wirtschaftsforschung: „Nicht mehr warten, sondern investieren. Vor allem auch in die Weiterbildung und Qualifizierung von Mitarbeitenden.“ Hier liege ein deutliches Potenzial bei älteren Erwerbstätigen, das es zu nutzen gelte. „Die Lockerung der Schuldenbremse zeigt eine Richtung auf, aber Investitionen der Wirtschaft brauchen vor allem verlässliche Rahmenbedingungen und Personal“, sagt Hottenrott.
Wichtig sei, zu verhindern, dass die Gelder des neuen Sondervermögens zweckentfremdet werden und zum Beispiel in die Rente fließen. Dies ließe sich vermeiden, wenn die Schuldenbremse durch einen sogenannten Zukunftshaushalt ersetzt würde, wie bereits vom ZEW vorgeschlagen. Dieser begrenzt die Verschuldung und setzt gleichzeitig Anreize, in der Ausgabenstruktur stärker an zukünftige Generationen zu denken.
„Deutschland hat ein unglaubliches Potenzial, sodass eine Kehrtwende und damit Trendwende durchaus sofort möglich ist. Allerdings braucht es dafür jetzt entscheidungsfreudige und innovationsoffene Unternehmerinnen und Unternehmer. Aufgabe der neuen Bundesregierung ist es vor allem, den Weg dafür konsequent freizumachen“, sagt die Ökonomin.
Die Wirtschaftsexperten sind sich einig: Die Bundesregierung ist gefordert, mehr Verantwortung für Deutschland zu übernehmen und einen Reformprozess zur Verbesserung der Standortbedingungen einzuleiten, anstatt weiterhin Partikularinteressen zu bedienen. So fordert auch das DIW, das Sondervermögen dürfe nicht zu Steuergeschenken unter anderem an Rentner, Landwirte oder die Gastronomie führen. Stattdessen sollten Investitionen die fünf wichtigsten Rahmenbedingungen berücksichtigen: analoge Infrastruktur, digitale Infrastruktur, Abbau der Bürokratie, Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials und innere Sicherheit.
Allerdings wird eine Rückkehr in die erste Liga der Wirtschaft kein Sprint sein, sondern eher ein Marathon: „2025 rechnen wir mit keinem Wirtschaftsaufschwung in Deutschland, der die aufgelaufenen Konsum- und vor allem Investitionsausfälle auffangen könnte“, erklärt IW-Konjunkturexperte Grömling. Bis die geforderten und – bestenfalls – umgesetzten Maßnahmen greifen, rechnen die Fachleute mit fünf bis zehn Jahren. Das heißt aber auch: Je früher die Politik den Rahmen setzt, desto schneller kann es losgehen.
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Iris Quirin
Bildnachweis: Getty Images