Politische Zeitenwende

Infolge der russischen Aggression rüstet Deutschland massiv auf: Doch während Großkonzerne die Schlagzeilen dominieren, entsteht die eigentliche industrielle Schlagkraft tief in den Lieferketten. Welche Chancen stecken in der sicherheitspolitischen Neuausrichtung Deutschlands für den Mittelstand?

Seit der frühere Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang 2022 nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Deutschen Bundestag die „Zeitenwende“ ausrief, ist in Berlin und Brüssel viel über Milliardenpakete, Verteidigungsfähigkeit und geopolitische Verantwortung diskutiert worden. Im Rampenlicht stehen dabei meist die großen Rüstungs- und Technologiekonzerne: Rheinmetall, KNDS Deutschland GmbH, Airbus Defence and Space oder Hensoldt. Doch die „Zeitenwende“ ist nicht nur ein Konjunkturprogramm für die Giganten der Branche, sondern auch für die vielen mittelständischen Zulieferer und Spezialisten, die oft im Schatten agieren. Sie sind es, die Präzisionsteile, hoch spezialisierte Elektronik, Softwarelösungen oder Logistikleistungen bereitstellen. Ohne diese Firmen würde kein Panzer rollen, kein Flugabwehrsystem einsatzbereit sein und kein modernes Kommunikationsnetz für die Truppe funktionieren.

Doch die gesellschaftliche Debatte macht es mittelständischen Rüstungszulieferern nicht leicht. Einerseits gelten sie inzwischen als unverzichtbar für die Sicherheitsarchitektur Europas; andererseits stehen sie im Spannungsfeld von Nachhaltigkeit, Frieden und Rüstung. Viele Unternehmer suchen daher nach Auftragsfeldern, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind. Einer von Ihnen ist Peter Hodapp. Sein Unternehmen im Westen von Baden-Württemberg stellt Spezialtüren und -tore aus Stahl und Edelstahl her. Seit 2025 produziert Hodapp auch Tore für Bundeswehrkasernen und Schutzräume. Hodapp: „Ich bin früh an die Belegschaft herangetreten und habe ihr erklärt: Unsere Produkte dienen zu 100 Prozent der Verteidigung und Sicherheit der Bevölkerung und nicht dem Angriff. Das ist mir wichtig zu betonen.“
 

Die Zeitenwende als Auftrags- und Wachstumschance

Mit dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr und der allgemeinen Erhöhung der Verteidigungsetats in Europa stehen in den kommenden Jahren enorme Investitionsmittel bereit. Eine Studie der auf Geopolitik spezialisierten Strategieberatung Agora Strategy Group und Porsche Consulting geht von mehr als einer Verdopplung des europäischen Verteidigungsetats bis 2030 aus. Für den Mittelstand bedeutet das eine langfristige Planungssicherheit: Viele Projekte laufen über Dekaden und garantieren stabile Auftragslagen. Hodapp: „Perspektivisch wollen wir in ein paar Jahren etwa 20 Prozent des Umsatzes durch Rüstungsaufträge generieren.“

Für mittelständische Unternehmen ergeben sich gleich mehrere Chancen. Viele neue Großprojekte – von Luftabwehrsystemen bis hin zur Modernisierung der Panzerflotte – brauchen Hunderte Zulieferer. Gerade im Bereich Software, Cyber-Abwehr oder unbemannte Systeme schreiben Regierungen zunehmend kleinere Projekte direkt an mittelständische Anbieter aus. Zudem öffnet die steigende Nachfrage nach Verteidigungsgütern innerhalb der NATO und in ihren Partnerländern auch für deutsche Mittelständler neue Auslandsmärkte. Die Flexibilität des Mittelstands erweist sich hier als entscheidender Vorteil: Während große Konzerne oft in langen Planungszyklen denken, können Mittelständler schnell Prototypen entwickeln und anpassen.

Zudem gelten mittelständische Firmen traditionell als hoch spezialisiert, flexibel und innovativ. In der Verteidigungsindustrie kommt genau das zum Tragen. Viele „Hidden Champions“ liefern Schlüsseltechnologien, ohne die große Systeme nicht funktionieren würden. Lena Schorlemer von der Agora Strategy Group erklärt: „Mittelständler sind ein zentraler Pfeiler der deutschen Rüstungsindustrie – an jedem Panzer hängen über 150 Zulieferer.“ So entwickeln kleinere Maschinenbauer Teile, die für Panzerketten, Fahrwerke oder komplexe Turmsysteme unverzichtbar sind. Ohne sie lassen sich die Milliardeninvestitionen nicht in konkrete Rüstungsgüter umsetzen. Besonders stark seien mittelständische Unternehmen „auch in der Entwicklung spezialisierter Rüstungstechnologien wie Drohnenabwehrsystemen und Cyber-Sicherheitslösungen.“
 

Bekannte Engpässe: Bürokratie, Kapital und Fachkräfte

So groß die Chancen auch sind, der Weg ist für den Mittelstand kein Selbstläufer. Der Zugang zu Indus­triepartnern und Systemintegratoren ist entscheidend, doch dieses Vertrauen muss erst über eine gewisse Zeit aufgebaut werden. Starke, etablierte Wettbewerber mit über Jahre gewachsenen Netzwerken erschweren den Einstieg. Eine lokale Wertschöpfung ist ebenfalls gewünscht, also die Erwartung, deutsche Partner zu beteiligen („German footprint“) und vor Ort zu produzieren. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Einhaltung komplexer Zertifizierungen und die Erfüllung hoher technologischer Anforderungen.

NATO-Interoperabilität und umfangreiche Dokumentationspflichten im Bereich ESG (Environmental, Social und Governance) sind hier wichtige Standards. Langwierige Zulassungsverfahren sind die Folge.

Eine große Schwierigkeit sind bislang auch noch die bürokratischen Hürden. Die Zuständigkeiten zwischen Bundeswehr, Ministerien und Parlamenten sind oft unübersichtlich und öffentliche Ausschreibungen im Verteidigungsbereich meist hoch reguliert. Zudem kommen staatliche Aufträge oft schleppend und ohne klare Bedarfsplanung. Wenn die Aufträge erteilt sind, stoßen mittelständische Unternehmen schnell an Kapazitätsgrenzen und benötigen in kurzer Zeit Produktionsflächen sowie weiteres Kapital, um den Betrieb hochzufahren. Doch viele Banken tun sich schwer, Kredite an Unternehmen mit Rüstungsbezug zu vergeben. ESG-Kriterien und Reputationsrisiken schränken den Zugang zu Kapital ein. Zudem bleibt ein Konsolidierungsrisiko, denn nicht alle Mittelständler können den Hochlauf stemmen, wodurch Übernahmen durch Großunternehmen wahrscheinlicher werden. Der Fachkräftemangel ist ein weiteres Problem. Schon jetzt ist der Mittelstand stark vom Ingenieur- und IT-Mangel betroffen. Mit wachsender Nachfrage verschärft sich dieses Problem.
 

Was sich bis 2030 ändern muss

Für viele mittelständische Firmen eröffnet sich im Bereich Sicherheit und Verteidigung gerade ein historisches Wachstumstor. Doch ob sie dieses auch durchschreiten können, hängt von politischen Rahmenbedingungen, gesellschaftlicher Akzeptanz und der Fähigkeit ab, Fachkräfte und Kapital zu sichern.

Die größte Herausforderung besteht darin, den Mittelstand strukturell einzubinden und damit seine Leistungsfähigkeit langfristig abzusichern. Die Industrieverbände für mittelständische Defense-Unternehmen fordern daher, Mittelständler bei Verteidigungsprojekten angemessener zu beteiligen und das Vergaberecht zu vereinfachen.  Schorlemer: „Hier müssten die Beschaffungsverfahren vereinfacht und schnellere Genehmigungen erteilt werden. Die Mittelstandsbeauftragten im Bundesministerium für Verteidigung sollten mehr Sichtbarkeit und Mitspracherechte erfahren. Um klare, wettbewerbsfähige und schnelle Ausfuhrregelungen zu gewährleisten, ist die Schaffung einer zentralen Regierungsstelle zur aktiven Exportunterstützung von Mittelständlern unverzichtbar.“

Klar ist: Ohne die mittelständischen Unternehmen bleibt die Zeitenwende ein Torso. Es wird Zeit, dass sie im Zentrum der Debatte stehen – denn ohne sie rollt kein Panzer.

Drei Fragen an Peter Hodapp

Peter Hodapp ist Geschäftsführer der Hodapp GmbH & Co. KG. 250 Mitarbeiter stellen auf einer Produktionsfläche von 20.000 Quadratmetern Spezialtüren und -tore aus Stahl und Edelstahl her. Diese kommen beispielsweise in Großprojekten wie im Gotthard-Straßentunnel oder im Kunstdepot in Darmstadt zum Einsatz. Seit 2025 produziert das Unternehmen auch Tore für Bundeswehrkasernen und Schutzräume.

Was war Ihr Impuls, in den Verteidigungssektor einzusteigen?

Das ist ein klarer Zukunftsmarkt. Im Automotive-Bereich sind unsere Auftragsvolumen für Werkstore in den vergangenen Jahren immer mehr zurückgegangen. Wir versuchen nun, diese Auftragslage durch Rüstungsaufträge zu kompensieren. Perspektivisch wollen wir in ein paar Jahren etwa 20 Prozent des Umsatzes dadurch generieren.

Wie sind Ihre Mitarbeiter mit dieser Entscheidung umgegangen?

Ich bin früh an die Belegschaft herangetreten und habe ihr erklärt: Unsere Produkte dienen zu 100 Prozent der Verteidigung und Sicherheit der Bevölkerung und nicht dem Angriff. Das ist mir wichtig zu betonen. Am Ende waren alle froh, dass wir die Arbeitsplätze sichern und wahrscheinlich noch ausbauen können.

Mussten Sie dafür viele Prozesse umstellen, um den militärischen Anforderungen gerecht zu werden?

Die Investition in maschinelle Anlagen war überschaubar, da wir hier nichts Gravierendes umstellen mussten. Wir beliefern auch Kernkraftwerke, da sind Themen wie Einbruchsschutz, Beschusshemmung und Schallschutz schon immer Standard gewesen. Allerdings braucht man für das Unternehmen und für die Mitarbeiter gewisse Qualifikationen, um in den Geheimhaltungsbereich liefern zu dürfen. Für die Zertifizierungen haben wir insgesamt zwei Jahre benötigt, sodass wir Anfang 2025 mit der Produktion für zwei konkrete Projekte starten konnten. Bis jetzt sind 30 Mitarbeiter für diese Projekte angemeldet, diese wurden im Vorfeld komplett durchleuchtet und mussten einige Schulungen durchlaufen.


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Matthias Techau
Bildnachweis: Getty Images