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Fahnenflucht der deutschen Industrie?

Deutschland hat den Anschluss verloren. Die Konjunktur bleibt mit Werten im Minusbereich in der technischen Rezession stecken, die Werte vor den Krisen, vor Corona, dem Krieg in der Ukraine und der hohen Inflation werden nicht wieder erreicht.

Jetzt macht das Wort von der „Deindustrialisierung“ die Runde. Verlassen Deutschlands Industriebetriebe, sowohl die großen Konzerne wie auch der Mittelstand, das Land? Nach Zahlen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie ist der industrielle Kern der hier angesiedelten Unternehmen zwischen 2016 mit 22,9 Prozent auf jetzt nur noch 20,3 Prozent zurückgegangen. Die Produktion wird ins Ausland verlegt, was den BDI zu einem sarkastischen Statement „invented in Germany – made somewhere else“ veranlasste. Jetzt hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine Analyse vorgelegt, die dem Schlagwort von der Deindustrialisierung eine rationalere Grundlage als die Emotionen zwischen Hoffen und Bangen gibt.

Negativer Saldo bei den Investitionen

Untersucht wurden vom industrienahen Forschungsinstitut die Direktinvestitionen. Leitend war die Frage, in welcher Höhe aus dem Ausland in Deutschland investiert wurde und wie andererseits Investitionen aus Deutschland in das Ausland flossen. Die Werte für die Untersuchung können auf der Basis einer OECD-Definition gewonnen werden und sind damit für die teilnehmenden Staaten vergleichbar. Dabei handelt es sich nicht nur um die OECD-Länder selbst, sondern auch um weitere wichtige Länder aus dem BRICS-Bereich wie China, Indien oder Brasilien, für die ebenfalls Daten vorliegen. Die OECD hat die Bestimmung vorgelegt, aus der ersichtlich ist, was überhaupt als Direktinvestition zählt. So müssen Direktinvestitionen eine gewisse Höhe erreichen, mit der sich dann ein unternehmerischer Einfluss überhaupt erst ergibt. Das ist nach der OECD dann der Fall, wenn mit der Investition mindestens 10 Prozent der Stimmrechte verbunden sind. Insgesamt zählen aber nicht nur solche Beteiligungen, sondern auch echte Übernahmen, Neugründungen sowie die Reinvestition von Gewinnen und Krediten zwischen verbundenen Unternehmen über die Ländergrenzen hinweg, dazu. Unter die Direktinvestitionen fallen also nur Gelder, die tatsächlich mit einer eher langfristigen Perspektive eingesetzt werden. Die Zahlen der OECD werden auch von anderen Forschungsstellen, etwa von der EZB oder der Bundesbank, aus den beschriebenen Gründen genutzt.

Die Zahlen, die das IW für den Verlauf zwischen 2013 bis zum aktuellen Rand 2022 – und für das letzte Jahr noch unterteilt in vier Quartale – nennt, zeigen zunächst einmal, dass in allen Jahren die Abflüsse (Investitionen ins Ausland) höher waren, als die Zuflüsse nach Deutschland. Nur in einem Jahr, im Krisenjahr 2020, war per Saldo ein leichtes Plus für die direkten Investitionen nach Deutschland festzustellen. Dabei hat sich die Differenz in den fünf Jahren zwischen 2014 und 2018 kontinuierlich verkleinert. War 2014 noch ein Minus von 87 Mrd. US-Dollar zu registrieren, so verringerte sich die negative Differenz kontinuierlich in diesen Jahren bis auf gut 25 Mrd. US-Dollar in 2018. Im letzten Vorkrisenjahr 2019 kam es dann bereits zu einer markanten Zunahme der Abflüsse und mit einem nur sehr moderaten Rückgang bei den Zuflüssen zu einem negativen Saldo von 98 Mrd. US-Dollar. 2021 waren es dann bereits minus 119 Mrd. US-Dollar und schließlich 2022 knapp 132 Mrd. US-Dollar. In 2022 stach vor allem das zweite Quartal hervor, das keinerlei Zuflüsse, aber einen deutlich erhöhten Abfluss von Geldern für Direktinvestitionen zeigte (minus 56 Mrd. US-Dollar).

Auch andere Nationen mit schlechten Wirtschaftsaussichten

Deutschland steht mit seiner negativen Bilanz im Hinblick auf Direktinvestitionen nicht alleine da. Auch Großbritannien und Japan haben unter den führenden Industrienationen hohe Mittelabflüsse zu verzeichnen. Dennoch bleibt es dabei, dass Deutschland im Jahr 2022 unter den 46 untersuchten Staaten den ersten Rang eingenommen hat. In den anderen Jahren rangierte man allerdings auch etwa auf Platz drei. Interessant ist die Frage, wohin die Investitionen gegangen sind. Für das Jahr 2022 verweist das IW auf Zahlen der Deutschen Bundesbank, nach denen rund 70 Prozent der Gelder in die EU flossen – davon 60 Prozent in das Euro-Gebiet. Eingesetzt wurden die Investitionen vor allem für Neugründungen bzw. Beteiligungen im europäischen Ausland. Asien und Amerika erhielten jeweils rund 14 Prozent der Direktinvestitionen. Die meisten Projekte wiederum waren in Frankreich, Großbritannien und der Türkei umgesetzt worden, die meisten Arbeitsplätze wurden in Polen geschaffen. Es ist vor allem die USA, die am stärksten in Deutschland investiert hat – allerding sind diese Investitionen „dramatisch“ (IW) von 79 auf 13 Mrd. Euro zurückgegangen. Wenn es um Arbeitsplätze in Deutschland geht, kommen die meisten Stellen aus den USA, aber schon gefolgt von China.

Die Zahlen liefern Indizes im Hinblick auf den Standort Deutschland im Zeichen einer möglichen Deindustrialisierung. Trotz der schwachen Werte aus der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung und trotz eines zunehmenden Pessimismus wäre es voreilig, anzunehmen, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb nicht mithalten könne und man aufgrund der Probleme hierzulande den Weg ins Ausland suche. Probleme gibt es trotzdem reichlich: Da ist eine überbordende Bürokratie, die den Unternehmen das Leben schwer macht. Weiterhin sind es Gesetzesvorgaben aus Brüssel und aus Berlin, wie etwa das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, aber auch hohe Steuern – Deutschland liegt im internationalen Vergleich mit an der Spitze – und schließlich die Verteuerung der Energie, deren „Wende“ nicht nur aus den Abhängigkeiten von der Lieferung aus anderen Ländern, sondern auch durch hohe Preise für die Dekarbonisierung, bestimmt wird. Es ist nicht nur die Politik, die keine günstigeren Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt, sondern es handelt sich auch um strukturelle Probleme wie die Überalterung und dem damit einhergehenden Fachkräftemangel und eine gehemmte Innovationskultur, wie sie sich auch an der abnehmenden Zahl von Neugründungen ermessen lässt. Klar ist, dass Deutschland noch nicht komplett abgehängt ist, gegenüber anderen Nationen langsam aber sicher zurückfällt.

Quellen: BDI, Bundesbank, IW