Creditreform Magazin

„Wer kann, sollte den Werkzeugkasten der Insolvenzordnung nutzen“

Noch lässt die große Insolvenzwelle in Deutschland auf sich warten. Ist das die Ruhe vor dem Sturm? Welchen Effekt haben die stützenden Maßnahmen der Regierung und wie sollten sich Unternehmen in Schwierigkeiten verhalten? Dirk Andres, Fachanwalt für Insolvenzrecht und Restrukturierungsexperte, gibt Antworten.

Herr Andres, wie haben Sie die vergangenen drei Monate erlebt? Stehen die Telefone in Ihrer Kanzlei überhaupt noch still?

Es ist ein Auf und Ab. Ende März, Anfang April häuften sich tatsächlich die Anfragen. Bei vielen ging es um Vorgespräche und Vorbereitungen, weil Unternehmer gemerkt haben, dass sie Liquiditätsschwierigkeiten bekommen. Aber danach wurde es ruhiger, weil die meisten es mit den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln erst mal geschafft haben. Die Insolvenzgerichte berichten uns, dass es dort zuletzt so ruhig war wie selten zuvor. Auch das hat damit zu tun, dass sich viele kleine Unternehmen, Einzelunternehmer, Gastronomiebetriebe durch die Zuschüsse von Bund und Ländern vorerst über Wasser halten konnten. Die Soforthilfen, vor allem für die ganz kleinen Unternehmen, haben vorerst merklich Druck vom Kessel genommen.

Sie sagen vorerst. Die große Insolvenzwelle steht also noch bevor?

Ich bin mir sicher, dass die Insolvenzzahlen spätestens im vierten Quartal ansteigen werden. Schon in den vergangenen Wochen wurden wir vermehrt angefragt, ob wir im Falle eines Insolvenzverfahrens zur Verfügung stünden. Aber ob es eine ganz große Insolvenz­welle wird? Da bin ich vorsichtig. Ich erwarte nicht, dass wir die Zahlen von 2003, 2004 erreichen werden, in denen jeweils fast 40.000 Unternehmen in die Insolvenz gegangen sind. Die heutigen Marktmechanismen und der Staat werden vieles unternehmen, um das zu verhindern.

Hängen die aktuell niedrigen Insolvenzzahlen auch damit zusammen, dass die Bundesregierung die Insolvenzantragspflicht bis zum 30. September 2020 ausgesetzt hat?

Das kann ein Faktor sein, allerdings sehe ich diese Aussetzung sehr kritisch. Denn nur, weil ein Unternehmer aktuell keinen Antrag stellen muss, beseitigt er ja nicht die Ursachen seiner Zahlungsunfähigkeit. Und wer weitermacht wie bisher, bekommt keine Werkzeuge an die Hand, um seine Liquidität zu verbessern. Im Gegenteil. Betriebe, die eigentlich insolvent sind, aber trotzdem noch am Markt agieren, schaden sich selbst und anderen. Sie müssen weiter mit Lieferanten umgehen, die, wenn sie hellhörig werden, auf Vorkasse umstellen. So wird es immer schwieriger, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Anders gesagt: Der Unternehmer liegt schwer verletzt auf der Straße und keiner hilft ihm.
 
Dabei bietet die deutsche Insolvenzordnung (InsO) eine ganze Reihe an Möglichkeiten, um die Situation wieder zu verbessern …

Genau. Im Schutzschirmverfahren und in der Eigenverwaltung verbleibt das Heft des Handelns ja zunächst beim Unternehmer. Und er erhält neue Handlungsspielräume, kommt etwa einfacher aus bestehenden Verträgen heraus, kann sich einfacher von Personal trennen – und bekommt Insolvenzgeld, was natürlich die Liquidität verbessert. Das Insolvenzgeld kann er sogar mit Kurzarbeitergeld kombinieren. Dazu gibt es inzwischen eine Dienstanweisung der Arbeitsagentur. Wenn etwa noch ein Teil des Betriebs coronabedingt ruht, können Mitarbeiter zunächst in Kurzarbeit verbleiben. Der Unternehmer kann sich das Insolvenzgeld dann sozusagen aufsparen für die Zeit, in der das Geschäft langsam wieder anläuft.

Heißt das im Umkehrschluss, dass die staatlichen Hilfsmaßnahmen ein falsches Signal senden?

Zumindest, wenn sie Unternehmer zögern lassen, eine eigentlich notwendige Sanierung anzugehen. Das gilt für die ausgesetzte Insolvenzantragspflicht wie auch für die KfW-Hilfskredite. Auch darüber habe ich schon mit Mandanten diskutiert. Denn egal wie gut der Zins ist und wie einfach die Mittel zu bekommen sind, sie müssen sie irgendwann wieder erwirtschaften und zurückzahlen. Wer vor der Corona-Krise schon eine schlechte Ertragslage hatte, der setzt schlicht auf das Prinzip Hoffnung. Anders ist es bei Unternehmen, die in den vergangenen Jahren grundsätzlich gut gewirtschaftet haben und denen nur durch den Shutdown die Geschäftsgrundlage weggebrochen ist. Die können es mit einem Hilfskredit schaffen.


Zur Person
Dr. Dirk Andres ist Fachanwalt für Insolvenzrecht in Düsseldorf. Mit seiner Kanzlei AndresPartner begleitet er Unternehmen bei allen Fragen der finanz- und leistungswirtschaftlichen Restrukturierung sowie bei Eigenverwaltungsverfahren. Andres wird zudem regelmäßig von Insolvenzgerichten in NRW zum Insolvenzverwalter und Sachwalter bestellt. Die Kanzlei gehört laut Ranking der WirtschaftsWoche zu den zehn führenden Sanierungs- und Insolvenzkanzleien in Deutschland.


Viele mittelständische Unternehmen in Deutschland haben in den vergangenen zehn Jahren ihre Eigenkapitalausstattung stark verbessert. Das sollte ihnen doch auch durch die Krise helfen. 

Ja und nein. Ich habe gerade erst in einer Beratung mit einem großen Retail-Unternehmen eine paradoxe Situation erlebt: Das Unternehmen war natürlich vom Shutdown massiv betroffen, hatte starke Umsatzeinbußen und wollte gerne in ein eigenverwaltetes Insolvenzverfahren gehen. Aber zum ersten Mal in meiner Karriere musste ich einem Mandanten sagen: Das geht leider nicht. Er hatte schlicht zu viel Eigenkapital im Unternehmen, das er jetzt einfach runterbrennt. Dadurch sieht er seine Position am Markt gegenüber Konkurrenten geschwächt, die vielleicht weniger Eigenkapital haben, sich nun in einer Eigenverwaltung aus dem Werkzeugkasten der Insolvenzordnung (InsO) bedienen können und vielleicht finanziell stärker aus der Krise hervorgehen als er. 

Sehen Sie durch die Hilfen – seien es Zuschüsse, Kredite oder auch die Werkzeuge der InsO – eine Gefahr, dass Unternehmen am Leben erhalten werden, deren Geschäftsmodell überholt ist?

Die Situation ist einmalig und von Branche zu Branche unterschiedlich. Am stärksten leiden die Unternehmen, die schon vor der Krise auf des Messers Schneide standen. Ob sie nur künstlich am Leben erhalten werden oder tatsächlich noch den Turnaround schaffen, hängt von jedem Einzelfall ab und ist schwer zu bewerten. Im besten Fall retten wir vor allem die Geschäftsmodelle, die auch wirklich in Zukunft noch tragfähig sind. Aber es bleibt ein Blick in die Glaskugel. 

Versuchen Sie es dennoch: Welche Branchen und Unternehmen stehen besonders unter Druck und welche können aufatmen?

Unter Druck sind zum Beispiel mittelständische Automobilzulieferer, die in der Vergangenheit gegenüber den Herstellern so große Zugeständnisse machen mussten, dass ihre Margen minimal sind. Aber auch Druckereien und andere Industriezweige mit sehr geringen Margen leiden. Diese Unternehmen konnten in der Vergangenheit kaum in die Zukunft investieren. Sie fallen nun reihenweise um, wenn ihnen schon bei geringen Schwankungen der Nachfrage der Umsatz und die Liquidität wegbrechen. In der Gastronomie, der Reisebranche und im Handel schätze ich die Situation anders ein. Diese Branchen werden sich, von einigen Ausnahmen mal abgesehen, auf einem geringeren Niveau erholen.

Sie sind vor wenigen Wochen bei einem großen Automobilzulieferer aus Nordrhein-Westfalen zum Insolvenzverwalter bestellt worden. Auf welche Herausforderungen treffen Sie dort konkret?

Es kommen mehrere Faktoren zusammen. Zum einen hätten wir in der Automobilindustrie durch die Umstellung auf alternative Antriebstechnologien in den kommenden Jahren ohnehin große Umbrüche erlebt. Zum anderen trifft die Corona-Krise exportorientierte Branchen besonders stark – auch weil andere Staaten sie noch nicht so gut im Griff haben wie Deutschland. Und schließlich wird sich das Kundenverhalten nachhaltig ändern. Ich zweifele zum Beispiel daran, dass Kaufprämien wirklich helfen. In diesem Umfeld müssen wir uns also bewegen und eine zukunftsfähige Lösung finden. Denn wir gehen in der Regel immer mit dem Ziel in ein Verfahren, das Unternehmen zu sanieren und zukunftsfähig aufzustellen.
 
Hilft diese Einstellung dabei, den Makel zu beseitigen, der einer Insolvenz in Deutschland immer noch anhaftet?

Auf jeden Fall. Wir erleben ganz oft, dass Unternehmer, wenn sie den Insolvenzantrag gestellt haben, regelrecht aufatmen, weil sie den Blick wieder nach vorne richten. Auch dass Kunden und Lieferanten abspringen, misstrauisch und argwöhnisch sind, können wir inzwischen gut widerlegen. In der Regel spricht drei, spätestens sechs Monate nach Aufhebung des Verfahrens kein Kunde, kein Lieferant mehr von der Insolvenz. Auch sie blicken in die Zukunft. Dem Lieferanten ist wichtig, dass ihm sein Abnehmer erhalten bleibt, Kunden ist wichtig, dass sie weiterhin eine gute Qualität bekommen. Wer gut kommuniziert, muss also keinen Imageverlust befürchten.

Ein anderer Ausgang wäre der Verkauf eines Unternehmens. Wie schätzen Sie den Markt und die Situation dafür ein?

Es gibt durchaus noch Geld im Markt und Interessenten – seien es gut aufgestellte Mittelständler oder Finanzinvestoren –, die aktiv nach Unternehmen suchen, bei denen sie einsteigen können. Nur: Als Käufer wollen sie natürlich einen möglichst geringen Preis zahlen. Die Schwierigkeit ist derzeit, dass Käufer einfach abwarten können, bis ihre Zielunternehmen aus dem Geld laufen und günstig zu haben sind.
 
Ihre Kanzlei betreut meist Mandanten im größeren Mittelstand, mit 200 bis mehreren Tausend Mitarbeitern. Was raten Sie kleineren Unternehmen?

Grundsätzlich gelten für sie die gleichen Regeln und Gesetze. Oft ist es allerdings so, dass ein Verfahren umso schwieriger wird, je kleiner ein Unternehmen ist. Die Liquiditätseffekte, etwa durch das Insolvenzgeld, sind bei zehn oder 20 Mitarbeitern geringer und werden dann oft schon durch die Kosten des Verfahrens wieder aufgezehrt. Ein Problem sind auch die weniger professionellen Strukturen in der Buchhaltung und im Controlling. Wenn es zum Beispiel keine Liquiditätsplanung gibt, stochern wir als Berater im Nebel und der Aufwand ist unter Umständen sogar höher als bei einem großen Unternehmen.
 
Das heißt, die Unternehmen sollten ihre Hausaufgaben machen?

Genau, und zwar ganz unabhängig von ihrer Situation. In jeder Krise zeigt sich, wie gut Unternehmen sortiert sind. Nur wer einen Überblick über seine Zahlen und seine Planung hat, kann auch angemessen auf Veränderungen reagieren. Das sollte für alle Priorität haben, egal ob für Soloselbstständige oder große Unternehmen.


Der Werkzeugkasten der InsO

Diese Besonderheiten des Insolvenzrechts können bei der Sanierung helfen:

Insolvenzgeld:
Ist ein Unternehmen in einem Insolvenzverfahren, erhalten dessen Arbeitnehmer von der Bundesagentur für Arbeit für drei Monate Insolvenzgeld. Es wird in der Regel in Höhe des Nettolohns ausgezahlt. Für Besserverdienende gibt es Obergrenzen.  

Steuerzahlungen in Eigenverwaltung:
Durch eine Eigenverwaltung ändert sich an den steuerlichen Pflichten eines Unternehmens zunächst nichts. Es muss weiterhin Steuererklärungen abgeben und Steuerverbindlichkeiten begleichen. In dem dreimonatigen Vorverfahren ist keine Umsatzsteuer zu zahlen. Auch die Lohnsteuer fällt in diesem Zeitraum nicht an.

Umgang mit Leasing- und Finanzierungskosten:
In einem Insolvenzverfahren hat der Insolvenzverwalter oder der eigenverwaltende Unternehmer das Wahlrecht, ob er im Interesse der Insolvenzmasse bestehende Verträge des Schuldners erfüllen will oder nicht. Entscheidet er sich dagegen, etwa bei Leasingverträgen, bleibt der Vertrag selbst zwar bestehen und es erlöschen nicht die Ansprüche. Der Vertragspartner kann das von ihm bereits Geleistete auch nicht zurückverlangen. Ihm steht dann ein Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung des Vertrags zu, den er entsprechend zur Insolvenztabelle anmelden kann.

Beendigung von Dauerschuldverhältnissen:
Für Miet- und Pachtverhältnisse von unbeweglichen Gegenständen und Räumen etwa gelten in der Insolvenz besondere Kündigungs- und Rücktrittsregelungen (§ 109 InsO). Unabhängig von der vereinbarten Vertragsdauer oder Kündigungsfristen, können sie mit einer Frist von drei Monaten zum Monatsende gekündigt werden.

Kündigungserleichterungen bei Arbeitsverhältnissen:
Für die Sanierung eines Betriebs kann es förderlich sein, Personal abzubauen. § 113 InsO begründet aus diesem Grund ein beiderseitiges Kündigungsrecht. Im eröffneten Insolvenzverfahren beträgt die maximale Kündigungsfrist drei Monate zum Monatsende und gilt für beide Parteien des Arbeitsvertrags. Das maximale Sozial­planvolumen ist auf 2,5 Monatsgehälter begrenzt (§ 123 InsO).


Quelle: Magazin "Creditreform"
Interview: Christian Raschke