Land der Baustellen

Der Wirtschaftsstandort Deutschland hat viele Baustellen. Immer mehr unternehmerische Existenzen geraten in Gefahr, ganze Branchen gar, ihre Probleme türmen sich haushoch. Wie kann das Land wieder attraktiver werden?

Wie langsam die Mühlen der Bürokratie mahlen, überrascht selbst gestandene Unternehmer zuweilen. Ganze anderthalb Jahre musste Jan Crummenerl ausharren, bis er eine einfache Betriebszeitenerweiterung endlich umsetzen durfte. Crummenerl ist kaufmännischer Leiter der Dreherei D&N Components – ein Unternehmen, dessen Betrieb bereits seit Jahrzehnten genehmigt ist. Die 15 Beschäftigten stellen Hydraulikarmaturen für Anlagen- und Maschinenbauer her am Firmenstandort im sauerländischen Herscheid. Für das vergleichsweise banale Anliegen der Betriebszeitenerweiterung musste Crummenerl unter anderem einen Architekten mit der Erstellung einer Nutzungsänderung beauftragen, ein Lärmschutzgutachten einreichen, auf die Stellungnahmen der Gemeinde, auch der Feuerwehr und der Naturschutzbehörde warten. Crummenerl ist noch immer fassungslos: „Warum muss die Feuerwehr gefragt werden bei einer Nutzungsänderung, die nur die Betriebszeiten erfasst?“ Anders gefragt: Wie soll der Standort Deutschland wieder fit werden – bessere Straßen, Brücken, Netze, Schulen, Kitas, schnelleres Internet und mehr erneuerbare Energien –, wenn das Genehmigungsverfahren für eine so simple Änderung wie Crummenerls Betriebszeitenerweiterung anderthalb Jahre dauert?

Fest steht: Deutschland weist massive strukturelle Probleme auf. Die überbordende Bürokratie ist eines davon. Doch auch hohe Energiepreise und Unternehmenssteuern lähmen die deutsche Wirtschaft, ebenso der Fachkräftemangel, nachlassende Innovationsfähigkeit, fehlende Digitalisierung und eine bröckelnde Infrastruktur. Das Klagen darüber aber stößt keine Wirtschaftswende an. Im Folgenden finden Sie nicht nur die wichtigsten Baustellen Deutschlands, sondern auch konkrete Handlungsempfehlungen.

1. Bürokratieabbau

Nicht weniger als 50 Vorschläge hatte die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) im vergangenen November vorgelegt, mit denen die Bürokratie sinnvoll gestutzt werden könnte – vom Verzicht auf eine A1-Bescheinigung bei kurzen Dienst- und Geschäftsreisen bis hin zum Rückbau der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Die Liste las sich wie ein Hilfeschrei.„Jeder Euro, der in die Erfüllung von Berichtspflichten fließt, steht nicht mehr für Investitionen zur Verfügung“, so die DIHK. Laut einer Studie von KfW Research wenden Beschäftigte von mittelständischen Betrieben 7 Prozent ihrer Arbeitszeit dafür auf, bürokratische Vorgaben zu erfüllen. Sie stellen Kunden Kassenbons aus, laden Datenschutzhinweise auf Firmenwebsites, erarbeiten Hygienepläne, erstellen Gefährdungsbeurteilungen und prüfen, ob technische Mindeststandards eingehalten werden. Manche der Vorgaben sind ohne Zweifel sinnvoll und notwendig. Doch die schiere Masse erdrückt die Unternehmen. „Ich muss zwei Stunden in das Formular fürs Lieferkettengesetz stecken, die ich anderweitig hätte verwenden können“, ärgert sich Jan Crummenerl. Zwar erwägt Bundeskanzler Friedrich Merz, das Gesetz abzuschaffen und die Europäische Lieferkettenrichtlinie bürokratieärmer umzusetzen, aber bis zum Redaktionsschluss am 14. Juli war das noch nicht geschehen. Grundsätzlich hat sich die schwarz-rote Bundesregierung vorgenommen, Bürokratie abzu­bauen – wie auch vor ihr die Ampelregierung. Aber wie realistisch ist das? Bisher war meist das Gegenteil der Fall. Allein im Jahr 2024 traten 121 neue bundesrechtliche Informationspflichten in Kraft und nur 24 fielen weg. Was also tun?

Fest steht: Bürokratieabbau ist kein Hexenwerk, sondern besteht aus vielen kleinen Schritten, die aber konsequent umgesetzt werden müssen. Bei Anträgen wäre es zum Beispiel denkbar, dass diese als genehmigt gelten, wenn nicht innerhalb einer gesetzten Frist eine Entscheidung erfolgt ist. Nach Ablauf der Frist könnte der Antragsteller eine automatische Bestätigung per E-Mail erhalten, schlägt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Frühjahrsgutachten vor. Ebenfalls möglich wäre es, die sogenannte One-in-one-out-Regel, die vorsieht, dass für jede neue Regel eine alte abgebaut wird, zu einer One-in-two-out-Regel auszuweiten. Radikaler ist der Vorschlag für eine Kostenerstattungspflicht für Unternehmen bei staatlichen Auskunftspflichten. Firmen würden demzufolge eine finanzielle Entschädigung bekommen fürs Bereitstellen der vom Staat verlangten Informationen. Vor allem aber muss die Bundesregierung aufhören, auf jedes Problem reflexhaft mit einer neuen Regelung zu reagieren. Denn die Erfahrung zeigt: Es ist einfacher, auf eine neue Vorschrift zu verzichten als eine bestehende wieder abzuschaffen.
 

2. Digitalisierung

„Bei der Modernisierung einer Volkswirtschaft kommt der Digitalisierung von KMU eine Schlüsselrolle zu“, meint das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einem Gutachten im Auftrag der KfW Bankengruppe. „Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland sowie seine Unternehmen lediglich im Mittelfeld zu verorten sind.“ Großen Nachholbedarf gibt es bei der digitalen Infrastruktur, also etwa dem Breitbandausbau oder den digitalen Diensten in der öffentlichen Verwaltung. Eine Ursache für die digitale Malaise liegt in Deutschlands föderalen System. Beispiel Bauantrag: Dieser muss mitsamt aller Unterlagen wie Bauzeichnungen, Lagepläne und Baubeschreibungen in vielen Bundesländern noch in Papierform bei der zuständigen Bauaufsichtsbehörde eingereicht werden – in dreifacher Ausführung, versteht sich. In Sachsen-Anhalt startete das Digitalministerium daher Mitte 2024 ein Pilotprojekt, das im Landkreis Wittenberg als erstem Landkreis einen digitalen Bauantrag möglich machte. Rund ein Jahr später waren 118 Bauanträge digital eingegangen. Zuvor waren Bauanträge auf Papier, wie der Landkreis Wittenberg mitteilt, im Schnitt innerhalb von 115 Tagen bearbeitet worden. Heute liegt die durchschnittliche Bearbeitungszeit bei einem rein elektronisch eingereichten Bauantrag bei nur noch 50 Tagen.

Das Beispiel zeigt, wie abhängig Unternehmen vom digitalen Fortschritt in ihrer Kommune sind. Experten empfehlen tatsächlich, die Entscheidungsträger vor Ort anzuschreiben und zu einer Priorisierung des Digitalen zu bewegen. Denn in vielen Ämtern gibt es Widerstände, IT-Know-how ist Mangelware und der Umstieg kostet Geld. Immerhin vermeldete Anfang des Jahres noch die alte Ampel-Regierung, dass die 115 im Onlinezugangsgesetz (OZG) priorisierten Verwaltungsleistungen online gestellt worden seien, zum Beispiel die Auskunft über Berufsqualifikationen für ausländische Fachkräfte. Hoffnung setzen Fachleute in das Registermodernisierungsgesetz von 2021, das Behörden dazu verpflichtet, ihre Datenbanken auf einen einheitlichen Standard zu bringen.
 

3. Energie

Die Energiewende kommt voran. Eine Studie des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) und von EY zeigt: Im Jahr 2024 stieg der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch auf 55 Prozent, die Treibhausgasemissionen des Energiesektors sanken um 61 Prozent gegenüber 1990. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite zeigt fast 200.000 Unternehmensschließungen im vergangenen Jahr, wie eine Untersuchung von Creditreform und dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) ergab. „Vor allem die Industriebetriebe leiden unter den hohen Energiekosten in der Produk­tion, während der Wettbewerbsdruck durch ausländische Anbieter steigt“, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Creditreform Wirtschaftsforschung. Das soll sich jetzt ändern. Die Stromsteuer für die Industrie – und auch für die Landwirtschaft – wird gesenkt. Das sorgt für Frust in Branchen, die leer ausgehen, im Handel etwa, im Handwerk und in der Logistik. 

Um die Strompreise weiter zu senken, plant Wirtschafts- und Energieministerin Katherina Reiche den Neubau von Gaskraftwerken mit einer Kapazität von insgesamt 20 Gigawatt. „Der schnelle Ausbau von erneuerbaren Energien allein reicht nicht aus, um die Energiewende am Ende zum Erfolg werden zu lassen“, sagte sie auf einem BDEW-Kongress in Berlin. Kritiker bemängeln, dass man mit Gaskraftwerken allein die Strompreise nicht wird senken können, manche von ihnen würden gerne ein Revival von Kohle und Kernkraft erleben. Solange die Versorgungssicherheit nicht abschließend gewährleistet ist und die Preise hoch bleiben, wird diese Diskussion weitergehen.

Nichtsdestotrotz ist der Zubau steuerbarer Kraftwerke wie eben Gaskraftwerke einer der zentralen Hebel, die laut BDEW nun in Bewegung gesetzt werden müssten, genauso wie eine stärkere Digitalisierung der Energiewirtschaft und der beschleunigte Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur. Für die Wasserstoffwirtschaft müssten regulatorische Rahmenbedingungen geschaffen und Förderinstrumente bereitgestellt werden. Auch der weitere Ausbau der Erneuerbaren steht auf dem Zettel des Bundesverbands. Wichtig sei jedoch, diesen synchron zum Netzausbau voranzutreiben und ein Strommarktdesign zu entwickeln, das Anreize gibt, Energie zeitlich flexibel zu erzeugen und zu verbrauchen. „Das deutsche Stromsystem muss dringend effizienter werden“, sagt Energieökonom Thilo Schaefer vom IW. „Wir brauchen mehr erneuerbare Energien, Speicher und regelbare Kraftwerke, aber auch das Ausbautempo muss zur Entwicklung der Nachfrage passen. Wenn das Zusammenspiel effizient gelingt und wir auf teure Lösungen wie Erdkabel wo immer möglich verzichten, gehen die Preise nachhaltig nach unten.“
 

4. Arbeitsmarkt

Die Deutschen arbeiten zu wenig – ein Urteil, das sich in vielen Köpfen festgesetzt hat. Wohl nicht ganz zu Unrecht, nach den Zahlen der OECD liegt Deutschland bei der Lebensarbeitszeit mit 52.662 Stunden auf dem vorletzten Platz, das Schlusslicht ist Luxemburg. Zwar wurde das Thema bereits angegangen: Um die Arbeitszeit und mit ihr die Produktivität und den Wohlstand wieder zu erhöhen, dürfen Rentner bald monatlich 2.000 Euro steuerfrei hinzuverdienen.

Doch auch hier liegt der Teufel im Detail: Die Aktiv-Rente nützt vor allem Gutverdienern, also etwa Senioren, die als Freiberufler weiterarbeiten. „Steuerfreies Einkommen setzt einen Anreiz für mehr Arbeit. Geringverdiener wird man darüber aber kaum erreichen, weil diese ohnehin wenig Steuern zahlen“, sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). „Wichtig wäre darüber hinaus, Menschen in belastenden Berufen rechtzeitig und systematisch in verwandte Tätigkeitsfelder mit längerer Perspektive weiterzuentwickeln, damit sie nicht vorzeitig ausscheiden.“

Eine weitere Beschäftigungsgruppe, die dem Arbeitsmarkt noch nicht ausreichend zur Verfügung steht, sind Eltern – vor allem Mütter. Auch hier sieht Weber Handlungsbedarf: „Nach Forschungsergebnissen ist Kinderbetreuung ein starker Hebel, um die Erwerbstätigkeit von Müttern zu erhöhen. Gleiches gilt für flexible Arbeitszeitmodelle und bessere finanzielle Anreize.“ Der Koalitionsvertrag sehe vor, die Ausweitung der Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten steuerlich zu fördern, so der Wirtschaftswissenschaftler, und fordert eine besonders starke Förderung immer dann, wenn die Minijobgrenzen überschritten werden. „Bei Minijobbenden liegen die größten Hürden – und das größte Potenzial.“

Der Plan der Koalition hingegen, Überstunden steuerfrei zu stellen, stößt auf Skepsis. Der Deutsche Steuerberaterverband (DStV) befürchtet, dass Tarifvertragsparteien die Wochenarbeitszeit gezielt absenken – etwa auf 34 Stunden –, um dann für jede weitere Stunde abgabenfreie Zuschläge zu erhalten. „Auf diese Weise ließen sich die Nettolöhne erhöhen, ohne das Arbeitsvolumen auszubauen“, sagt Weber. Speziell kleinen und mittleren Unternehmen drohen Wettbewerbsnachteile, weil diese oft 40 Stunden pro Woche als reguläre Arbeitszeit festgelegt und teilweise keine Tarifverträge haben.
 

5. Subventionen

Die Bundesregierung will die Rahmenbedingungen mit ihrem sogenannten „Investitionsbooster“ verbessern (siehe auch Seite 40 ff.). Hierfür werden die Abschreibungsmöglichkeiten für Maschinen und E-Autos geändert, die Körperschaftsteuer abgesenkt, die Forschungszulage für Investitionen in Forschung und Entwicklung erweitert – Maßnahmen, von denen mittelständische Firmen profitieren können. Seit dem Start der Forschungszulage im Jahr 2020 bis Ende März 2025 stammten 84 Prozent der Anträge von kleinen und mittleren Unternehmen.

Auch wünschen sich die Unternehmen eine moderne Infrastruktur, die Geschäfte ermöglicht und anregt, nicht abwürgt. Die Lockerung der Schuldenbremse soll es möglich machen, Milliarden in Verkehrs- und Energienetz, Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen und Digitalisierung zu pumpen. Im Handelsblatt argumentierte der frühere Wirtschaftsweise Peter Bofinger zudem, dass die selektive Industriepolitik Chinas im Automobilsektor dazu geführt habe, dass die deutschen Hersteller den Anschluss verloren hätten. „Ohne staatliche Unterstützung dürfte die Privatwirtschaft so manchen grünen Transformationsschritt nicht gehen können“, so auch das IW.

„Aus historischer Sicht zeigt sich, dass Ordnungspolitik auch heute gut geeignet ist, Krisen vorzubeugen und zu überwinden“, schreibt dagegen das Roman Herzog Institut, ein Thinktank aus München. Krisenbewältigung gelänge am besten, wenn der Geldwert stabil ist, Staatsquoten und Staatsschulden gesenkt werden, Beschäftigung und Arbeitszeiten ausgeweitet, die Produktivität und Innovationen durch gute Rahmenbedingungen angereizt werden und der Staat sich durch eine Wirtschaftspolitik auszeichnet, die Planungssicherheit bietet.

Bei D&N Components im Sauerland sind in den vergangenen Monaten wieder deutlich mehr Bestellungen eingegangen als vorher. „Wir müssen manche Aufträge ablehnen, weil wir die nicht mehr abgearbeitet kriegen“, sagt der kaufmännische Leiter Jan Crummenerl. Wenn der Trend anhält, blüht auch der Standort in Herscheid schnell wieder auf. Eine Baustelle weniger.


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Stefan Wolking
Bildnachweis: Getty Images



Creditreform in Mecklenburg-Vorpommern