„Die Hierarchie-Pyramide muss kippen“

Eigentlich wollte die Versicherungsmanagerin Karoline Haderer mit ihrem Kollegen Philipp Hilse nur einen Erfahrungsbericht über Transformation schreiben – bis ihnen klar wurde: Der eigentliche Schlüssel zum Erfolg liegt im Mittelmanagement. Doch wie weckt man die Underdogs?

Frau Haderer, Sie kritisieren als Autorin, dass das mittlere Management gnadenlos unterschätzt wird. Haben Sie Ihr Buch dem Vorstandschef mit Schleife ins Postfach gelegt? 

Nein, er hat das Buch auf LinkedIn bemerkt und wollte gerne mehr dazu wissen. Mein Co-Autor Philipp Hilse und ich wurden eingeladen, vier Stunden mit dem Gesamtvorstand darüber zu sprechen, wie wichtig das mittlere Management im Transformationsprozess ist. Aber ich bin jetzt nicht in der Beraterfunktion beim Vorstand der Nürnberger Versicherung unterwegs. 

Unternehmen haben jahrelang mittlere Hierarchieebenen ausgedünnt, oft sogar als Lähmschicht verspottet. Und genau dort vermuten Sie nun Potenzial?  

Mitunter sitzen da tatsächlich Leute, die Veränderungen eher blockieren als befördern – aus Angst oder anderen Gründen. Man sollte gerade deshalb schauen, wie man die Rolle sinnvoll neu definieren kann. Verantwortung nur zu delegieren, wäre zu einfach. Nicht alle bringen die Eignung mit. Aber ich plädiere schon dafür, die Mutigen und Willigen im Mittelmanagement mit dem nötigen Rüstzeug auszustatten, damit sie eine stärkere und sichtbarere Rolle einnehmen können.  

Von der Realität ist das vielerorts weit entfernt. Für das Buch haben Sie mit mittleren Managern aus anderen Unternehmen gesprochen. Die berichten nicht gerade positiv. Von einem „Nebel aus Unsicherheit“ ist die Rede und von Chaos. 

Wir nennen bewusst keine Namen. In vielen Unternehmen greifen momentan alte Formeln nicht mehr – angesichts der multiplen Risiken und Krisen. Man kann nicht mehr A sagen und B kommt zuverlässig raus. Im mittleren Management fühlt sich das oft chaotisch an, Führung ist viel schwieriger geworden. 

Sie waren einst Unternehmensberaterin. Da ist Aufstieg das Leitmotto, den Mittelbau will man möglichst schnell verlassen. Up or out … 

Ja, aber das halte ich für eine grundlegend falsche Sicht auf die Dinge. Gerade in diesen anspruchsvollen Zeiten braucht es Bindeglieder. Fähige Menschen, die Einflüsse ausbalancieren können, mehr Schultern, die tragen können, und mehr Köpfe, die entscheiden können. Es ist ja Irrsinn, sich auf eine Handvoll Leute an der Spitze zu verlassen, die angeblich alles wissen. Ebenso der Glaube, die gesamte Last nur auf die Arbeitsebene verlagern zu können. Wenn ein mittlerer Manager dieses Verbindende leisten kann, macht es eine Organisation in jedem Fall leistungsfähiger. 

Für Mittelmanager heißt es im Buch als Tipp: Die eigene Positionierung schärfen und Leistungsfähigkeit demonstrieren. Wie macht man so was ganz praktisch? 

In komplexeren Strukturen ist das nicht immer einfach. Aber in jedem Unternehmen gibt es Projekte und Formate, wo man definitiv etwas einbringen kann. Sichtbarkeit ist wichtig, auch um Leute zu finden, die einem bei Veränderungen folgen und mitmachen. So kann man auch aus dem mittleren Management heraus Transformation nach vorne bringen.Der Funke für Veränderung soll aus der Mitte kommen – nicht von oben?Immer gehen alle davon aus, Strategie wird von oben gemacht und dann runterkaskadiert. Aber oft kommt aus der Chefetage nicht so viel, wie man sich wünscht und erwartet. Dann hat das Mittelmanagement zwei Möglichkeiten. Entweder abwarten und nichts tun. Oder das Vakuum nutzen, um selbst was vorwärtszubringen – zumindest im eigenen Bereich. 

07_Haderer_c_Nürnberger-Versicherung-284x199.jpg

"Gerade in diesen anspruchsvollen Zeiten braucht es Bindeglieder. Fähige Menschen, die Einflüsse ausbalancieren können, mehr Schultern, die tragen können, und mehr Köpfe, die entscheiden können."

Wie stellt man das an?  

Wer ein unbearbeitetes Feld sieht, sollte nicht mit der Brechstange rangehen, sondern mit Piloten oder Tests erst mal Überzeugungsarbeit leisten – und kleinere Erfolge als Signal an die oberen Etagen funken. Also: Erst mal versuchen, den möglichen Schaden zu minimieren, dann aber irgendwann sagen: Schaut her, wir haben es einmal geschafft, also können wir es auch ein zweites und ein drittes Mal hinkriegen. So werde ich sichtbar. Das Entscheidende ist, die große Angst vor Fehlern zu überwinden. 

Das Problem sind Hierarchien? 

Wir wollen weg von einem System, wo viele nach oben schauen. Und wer oben sitzt, schaut nach unten und erwartet, dass die da unten irgendwas umsetzen, was sie selbst womöglich noch gar nicht klar vorgegeben haben. Es geht darum, die in 90 Prozent der Unternehmen anzutreffende Hierarchie-Pyramide zu kippen – mit dem Ziel, dass ausgesuchte, fähige mittlere Manager sich auf Augenhöhe mit dem Vorstand bewegen. So können sie bei der Strategiefindung entscheidend mitwirken, sind aber gleichzeitig nah dran am Operativen, was die Umsetzung erleichtert. Die Rolle ist gestalterisch und koordinierend. 

"Mittlerweile ist in der Branche ein ganz anderes Service Level gefragt. Die Kunden haben Amazon vor Augen: Wenn sie irgendwas reinkippen, wollen sie zügig eine Antwort haben. Es geht um Digitalisierung, Automatisierung, Effizienz."


Im Buch beschreiben Sie eine erfolgversprechende Organisationsform, genannt „3C-Modell“. Wofür stehen die drei Cs?  

Herzstück und Kern eines Unternehmens, wir sagen „Core“, bleiben die Mitarbeiter, denen viel Eigenverantwortung zukommen sollte. Die einstigen Underdogs aus dem Mittelmanagement nennen wir in ihrer aufgewerteten Rolle „Capcoaches“, eine Wortkonstruktion aus Captain und Coach. Sie sollen Mitarbeiter führen und zugleich so mitnehmen, dass diese in Freiräumen agieren können. Weiterhin gibt es die „Chiefs“, also Vorstände, die langfristige Leitplanken setzen. Wenn der Chief sagt, wir wollen auf diesen Berg rauf, kennt der Capcoach das Gelände und die Fähigkeiten seiner einzelnen Leute und kann den Weg zum Ziel eindeutig vorgeben. Es geht um mehr Handlungssicherheit. 

Sind Sie zuversichtlich, dass ein solcher Wandel vielen Unternehmen gelingt?  

Unser Vorschlag, zu einer anderen Rollenaufteilung zu kommen, ist ein erster Vorstoß. Schon heute geht man ja in diese Richtung, etwa wenn agile Teams gebildet werden. Nur bleibt oft eine Frage ungeklärt: Wie binde ich die agilen Teams, die auf ihrem Level alles gut leisten, eigentlich an die übergeordneten Ziele an? Da braucht man eben Capcoaches im Mittelmanagement, die diese Transferleistung auch hinkriegen. Unser Modell entlastet übrigens auch den Vorstand, dessen Anforderungen nicht zuletzt durch externe Faktoren wie Regulatorik und Compliance immer weiter steigen. 

Wie viel Bernd Stromberg steckt noch in der Versicherungswirtschaft? Gibt es diesen intriganten Typ Mittelmanager, der in der TV-Serie parodiert wurde?  

Ich muss immer ein bisschen schmunzeln, weil es man sich gut vorstellen kann, dass so die alten Zeiten gewesen sein könnten. Mittlerweile ist in der Branche ein ganz anderes Service Level gefragt. Die Kunden haben Amazon vor Augen: Wenn sie irgendwas reinkippen, wollen sie zügig eine Antwort haben. Es geht um Digitalisierung, Automatisierung, Effizienz. Stromberg ist aus der Zeit gefallen.  

Stromberg steht aber nicht nur für Aktenberge, sondern auch für Hauen und Stechen, den unbedingten Kampf um Beförderung.  

Vielen geht es heute gar nicht mehr um Beförderung. Den Status einer Rolle definiert man nicht mehr nur nach Führungsverantwortung. Es gibt eine unglaubliche Explosion an Vielfalt, Möglichkeiten und neuen Jobprofilen. Man muss nicht die Ellenbogen auspacken.  

Wer tut sich leichter mit seinen Mittelmanagern – Konzerne oder Familienunternehmen?  

Prinzipiell müssen sie relativ ähnlich arbeiten, um das mittlere Management in eine bewegtere Rolle zu bekommen. Es kommt eher auf den Zustand der Kultur an.  

Als Leiterin des Konzernmarketings haben Sie bei der Nürnberger Versicherung selbst eine Transformation erlebt – was auch den Anstoß für Ihr Buch gab. Haben Sie sich persönlich verändert im Führungsstil oder in Ihrer Arbeit? 

Komplett verändert sicher nicht, aber die Reflexion hat mir etwas gebracht. Wir wollten gerne niederschreiben, was uns da so in den letzten Jahren in Veränderungsprozessen begegnet ist und was wir auch so mitbekommen haben bei anderen. Nach Vorträgen etwa kamen oft Menschen, die wissen wollten: Wie habt ihr das eigentlich hinbekommen? Durch den Austausch hat sich das Thema immer weiter von dem entfernt, was wir selbst erlebt haben, hin zu einer allgemeingültigeren Aussage. Je mehr Erfahrung man bekommt, desto interessierter schaut man drauf. 

Und man erkennt die eigentliche Komplexität? 

Auf jeden Fall. Also früher habe ich immer gedacht, das muss doch eigentlich ganz einfach sein. Ich verstehe gar nicht, womit ihr da so ein Problem habt. Nun schnuppere ich in einer Doppelrolle auch in das Thema Vorstand rein, als Vorständin der Garanta, einer Tochter der Nürnberger Versicherung. Und das ist relativ nüchtern an vielen Stellen. In meinem Hauptjob bin ich einfach mittlere Managerin im Marketing und Vertrieb – da menschelt es wesentlich mehr. Wenn man beide Rollen einmal ausfüllt, verändert einen das schon. Ich bin entspannter geworden, nicht mehr so streng mit denen weiter oben, weil ich sehe, dass es schwierig ist, diesen ganzen Anforderungen gerecht zu werden. 
 

Bräuchten vielleicht auch Vorstände einmal im Jahr ein zweiwöchiges Zwangspraktikum im mittleren Management? Damit es mal menschelt? 

"Ich bin entspannter geworden, nicht mehr so streng mit denen weiter oben, weil ich sehe, dass es schwierig ist, diesen ganzen Anforderungen gerecht zu werden."

 

Ja, und auch das mittlere Management müsste wahrscheinlich hin und wieder in die Mitarbeiterrolle schlüpfen. Ich wäre Befürworterin solch einer Level Rotation oder wie auch immer man das dann nennen möchte. Der Perspektivwechsel könnte die Kommunikationsnotwendigkeit verdeutlichen. Oft kommt ja das Gefühl auf: Was passiert denn hier eigentlich? Ich werde bei einem Thema nicht mitgenommen, muss aber die Verantwortung tragen. So entstehen viele Missverständnisse. 

Wann werden wir Sie das erste Mal als Sachbearbeiterin sehen? 

Hin und wieder muss ich jetzt schon in manche Materie tiefer einsteigen, als ich das eigentlich möchte. Grundsätzlich will ich lieber andere befähigen. Aber ja, ich fände es durchaus mal interessant und bin da aufgeschlossen.


 

Das Buch: Denkmal und Denkschrift  

Zusammen mit ihrem Kollegen Philipp Hilse, der ebenfalls im Versicherungsmarketing arbeitet, hat Karoline Haderer den heimlichen Transformationstreibern ein kleines Denkmal gesetzt: „Transformation durch das mittlere Management: Raus aus der Underdog-Rolle“ heißt das Management-Buch (Haufe, 2023). Die Autoren würdigen nicht nur den oft übersehenen Einsatz der Mittelmanager, sondern geben vor allem Denkanstöße und Organisationstipps, wie man die Rolle strategisch aufwerten und für eine vorausschauende Unternehmensführung besser nutzen

Die Person: Wanderin zwischen den Welten 

Karoline Haderer leitet das Marketing und den Direktvertrieb der Nürnberger Versicherung und ist Vorstandsmitglied beim Schadenversicherer Garanta, einer Tochtergesellschaft. So unternimmt die Mittelmanagerin operative Ausflüge in die Topetage. Die promovierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin hat nach Stationen bei KPMG und EnBW die Marke Entega beim Darmstädter Versorger HEAG aufgebaut, bevor sie 2015 in die Versicherungsbranche wechselte. 


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Thomas Mersch und Stefan Merx
Bildnachweis: Haderer / Nürnberger Versicherung