Creditreform Magazin

Generative KI wird generalistisch

Die einzige Konstante ist Veränderung – der Unternehmen am besten mit Innovationskraft und Wandlungsfähigkeit begegnen. Nur, worauf sollten sie reagieren? Wie erkennen sie neue Entwicklungen, bevor diese zur Disruption werden? Das Hype-Thema im Frühjahr 2023 ist Künstliche Intelligenz.

Wann immer ein Technologietrend entsteht, an dem vermeintlich keiner mehr vorbeikommt, dann ist er das bestimmende Thema der South by Southwest (SXSW), einer der größten und wichtigsten Digitalkonferenzen der Welt. 2021 war es die Blockchain, 2022 das Metaverse und im März 2023 bestimmten ChatGPT und generative KI die Vorträge und Diskussionen bei dem Branchentreffen in Texas. Die zwei erstgenannten sind bedeutende Technologien, doch der Hype um sie hat nach kurzer Zeit wieder nachgelassen. Das werde bei generativer KI nicht passieren, versprach Amy Webb bei der Vorstellung ihres Tech Trends Reports auf der SXSW: „KI wird eine so große Veränderung bringen wie die Dampfmaschine.“ Ihr Wort hat Gewicht. Webb ist eine der profiliertesten Trendforscherinnen, Professorin für strategische Früherkennung an der New York University und sie berät mit ihrem Future Today Institute Führungskräfte und Unternehmen weltweit. Ihr jährlicher Report wird millionenfach heruntergeladen und gilt als profunde Einschätzung darüber, wie Technologie Wirtschaft und Gesellschaft verändern wird.

Und Künstliche Intelligenz werde gewaltige Veränderungen mit sich bringen. In ihrem gut einstündigen Vortrag beschrieb die Futuristin, wie generative KI in nur wenigen Jahren alle Wirtschaftsbereiche durchdringt. Laut Amy Webb befindet sich die Entwicklung gerade an einem sogenannten Kipppunkt. „Das Internet, wie wir es kennen, wird es in zwei Jahren nicht mehr geben“, sagte sie. Sogenannte Large Language Models (LLM) wie GPT-3 verändern radikal die Art und Weise, wie Menschen Informationen suchen – und wie Informationen ihre Empfänger finden. 

KI wird nahezu jede Aufgabe erlernen können

Wie schnell dieser Wandel geschieht, verdeutlicht das Sprachmodell GPT-4, das dessen Entwickler OpenAI Anfang März vorgestellt hat. Es ist die Weiterentwicklung des Modells hinter ChatGPT – und weitaus mächtiger als sein Vorgänger. GPT-4 kann achtmal längere Texte lesen, analysieren und selbst verfassen. Es kann Bilder interpretieren, Code programmieren und vieles mehr. Andere KI-Modelle können Textbefehle in Bilder und Videos umwandeln, wieder andere die Struktur von Proteinen vorhersagen. Zukunftsforscherin Webb ist überzeugt, dass all diese Fähigkeiten generativer KI über kurz oder lang in einer einzigen generalistischen KI zusammenkommen werden – einem Computerprogramm, das jede Aufgabe erlernen und erledigen kann.

Das klingt bedrohlich. Erst recht, wenn man bedenkt, dass es derzeit vor allem Big-Tech-Unternehmen wie Google und Microsoft sind, die die Entwicklung der großen Sprachmodelle prägen. Es besteht die Gefahr, dass erneut ein Monopol entsteht. Wenige Konzerne gewinnen – und die Konsumenten gehen leer aus. Doch Amy Webb beschreibt generative KI in einem positiven Szenario auch als Werkzeug zur Produktivitätssteigerung. So wie den Taschenrechner: Niemand müsse damit mehr schriftlich multiplizieren oder dividieren. In den kommenden 18 bis 24 Monaten werde generative KI als Hilfsmittel in vielen Apps und Anwendungen Einzug halten. Canva, ein beliebtes Online-Tool zur Bildbearbeitung, hat bereits die Bild-KI Stable Diffusion integriert. In Notion, einer App, um Notizen zu erstellen und zu managen, hilft ebenfalls bereits ein Sprachmodell beim Schreiben. Und nicht ohne Grund hat Microsoft die Integration von ChatGPT in seine 365-Grad-Programme „Copilot“ getauft. Die Software gibt eigene Vorschläge, fasst zusammen, prüft Texte auf Fehler – und macht ihre Anwender so deutlich produktiver.

Doch um beim Taschenrechner-Beispiel zu bleiben: Ohne ein Grundverständnis in Mathematik ist auch er wenig hilfreich. Genau dieses Grundverständnis im Umgang mit generativer KI müssen Unternehmen, Mitarbeiter, Studierende und Schüler jetzt erwerben, um nicht abgehängt zu werden. Wo und wie schnell die Entwicklung voranschreitet, zeigen diese drei Use Cases*, die sich beliebig erweitern und auf andere Branchen übertragen lassen:

Chatbots in der Softwareentwicklung

Google, DeepMind, Salesforce und OpenAI entwickeln aktiv Systeme, die Programmierern bei der Entwicklung von Code helfen. Das Tool Codex von OpenAI etwa unterstützt Anwender der Softwareentwicklungsplattform GitHub bei der Vervollständigung und Korrektur von Programmcode. Es kann mehrere Codezeilen aus Anweisungen in natürlicher Sprache zusammenstellen. Das Interesse ist so groß, dass weitere Unternehmen um die Entwicklung kommerzieller Produkte konkurrieren. BigCode ist eine kollektive Open-Source-Initiative, die vom Unternehmenssoftwareanbieter und dem Tool-Entwickler HuggingFace vorangetrieben wird, um ein LLM für Code zu entwickeln. CodeGen von Salesforce entwickelt eine leistungsstarke Alternative zu Codex. Und AlphaCode vom Google-Tochterunternehmen DeepMind generiert bereits ganze Programme.

Künstliche Intelligenz im Personalwesen

Das US-amerikanische Startup HireVue nutzt KI-Systeme, um Unternehmen bei der Entscheidung zu helfen, welche Bewerber sie einstellen sollten. Dabei analysieren Algorithmen während eines Vorstellungsgesprächs Hunderte von Details, wie zum Beispiel den Tonfall, die Mimik und das Auftreten, um vorherzusagen, wie ein Bewerber zur Unternehmenskultur passt. Doch die Technologie hat Anwendungsmöglichkeiten, die weit über Vorstellungsgespräche hinausgehen. Sie könnte auch bei Verhandlungen erkennen, ob jemand offen für neue Vorschläge und Ideen ist, oder aber im Handel, ob ein Kunde etwas kaufen möchte.

Bild und Texterkennung bei einer Versicherung

Bilder und Berichte durchsehen, einen Schaden bewerten und die Ansprüche mit der Versicherungspolice vergleichen. Wofür menschliche Sachbearbeiter Stunden benötigen, erledigt ein KI-System in wenigen Minuten. Die technischen Werkzeuge dafür existieren bereits: Sprachmodelle verarbeiten Texte und gleichen Vertragsbestandteile ab, visuelle KI erkennt Anomalien in Fotos und Videos. So könnten Ansprüche effizienter und schneller bearbeitet werden. Der US-amerikanische Versicherungskonzern Liberty Mutual hat bereits Machine Learning in seine Service-App integriert. Die KI informiert Kunden im Schadensfall über ihren Versicherungsschutz und die nächsten Schritte.

* Quelle: Future Today Institute, 2023 Tech Trends Report

Text: Christian Raschke