Gefährlicher Balanceakt

Die Bundesregierung will das Arbeitszeitgesetz reformieren. Was als Schritt in Richtung Flexibilität gefeiert wird, ruft Gewerkschaften, Mediziner und Juristen auf den Plan. Zwischen Freiheit und Fürsorge droht ein risikoreicher Balanceakt.

Bundeskanzler Friedrich Merz verkündete im Mai: „Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance halten wir den Wohlstand dieses Landes auf Dauer nicht.“ Tatsächlich sank das Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen in Deutschland nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) 2024 um 0,1 Prozent auf 61,37 Milliarden Stunden. Im Schnitt arbeiteten Erwerbstätige im vergangenen Jahr damit rund 1.332 Stunden pro Kopf, das entspricht 0,3 Prozent beziehungsweise 3,5 Stunden weniger als ein Jahr zuvor. Allerdings war das Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen seit 2020 auch kontinuierlich gestiegen. Laut Enzo Weber, Leiter des IAB-Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“, sind folgende Faktoren maßgeblich: „Verluste bei Vollzeitjobs, weniger Überstunden, mehr Kurzarbeit und immer weniger Selbstständige.“

Die neue Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD hat im Koalitionsvertrag eine grundsätzliche Neuausrichtung der Arbeitszeitregelung in Deutschland angekündigt. Konkret soll die bislang geltende tägliche Höchstarbeitszeit durch eine wöchentliche ersetzt werden. Geltende Standards beim Arbeitsschutz und die Ruhezeiten sollen dabei unangetastet bleiben. Was auf den ersten Blick wie eine pragmatische Adaption an moderne Arbeitsrealitäten wirkt, ist in der betrieblichen Praxis ein hochsensibles Thema. Zwischen Flexibilität, Gesundheitsschutz und dem Wunsch nach mehr Eigenverantwortung entbrennt aktuell eine Debatte, die Unternehmen, Gewerkschaften und Juristen gleichermaßen bewegt und so rasch auch nicht beigelegt sein dürfte.
 

Wie ist die bisherige Rechtslage und was soll sich ändern?

Aktuell regelt das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) eine maximale werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden. Sie darf in Ausnahmefällen auf bis zu zehn Stunden verlängert werden – sofern es innerhalb von sechs Monaten bei einem Durchschnitt von acht Stunden pro Tag bleibt. Das Gesetz soll sicherstellen, dass Arbeitnehmer genügend Ruhezeiten haben, um sich zu regenerieren. Die geplante Neuregelung sieht jetzt vor, die Höchstarbeitszeit nicht mehr täglich, sondern wöchentlich zu bemessen – beispielsweise mit einer Obergrenze von 48 Stunden pro Woche. Innerhalb dieser Zeitspanne könnten Arbeitnehmer und Arbeitgeber flexibler verhandeln, ob etwa an einem Tag zehn Stunden und an einem anderen nur sechs gearbeitet wird. Ziel ist es, Raum für moderne Arbeitszeitmodelle wie Homeoffice, Vertrauensarbeitszeit oder geteilte Schichten zu schaffen.
 

Deutschland braucht mehr Vollzeitjobs

Ein Hauptargument für die Neuregelung ist die veränderte Arbeitswelt: Digitale Tools und globale Kommunikation weichen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend auf. Viele Berufstätige arbeiten heute in Zeitkorridoren, die sich nicht mehr mit den klassischen „9-to-5“-Strukturen decken. Eine Wochenarbeitszeitregelung würde diesen Realitäten wesentlich besser Rechnung tragen. Wenn jemand beispielsweise am Montag acht Stunden arbeitet, am Dienstag dann zehn und am Freitag nur sechs, dann wäre das mit dem neuen Modell einfacher abzubilden – vorausgesetzt, die Ruhezeiten bleiben gewahrt.

Für Arbeitnehmer erleichtern flexiblere Arbeitszeiten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. So können sich Eltern auch in Vollzeitjobs besser aufteilen, was sich positiv auf das Haushaltseinkommen auswirkt. Die Arbeit in Teilzeit würde dadurch deutlich an Attraktivität verlieren. Auch gesamtwirtschaftlich betrachtet wäre das ein Win-win vor dem Hintergrund des immer größer werdenden Fachkräftemangels. Zum Hintergrund: Die Teilzeitquote stieg in den vergangenen Jahren, vor allem bei Frauen, spürbar an: 2024 arbeiteten nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts 50 Prozent der Frauen weniger als fünf Tage pro Woche – im Gegensatz zu 13 Prozent bei den Männern. Laut Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) könne durch eine veränderte Regelung die „notwendige Flexibilität für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf entstehen, um Frauen in höherem Umfang in die Erwerbstätigkeit zu holen“.
 

Vorteile für Arbeiten im Büro, Nachteile im Handwerk?

Aus Sicht vieler Unternehmen ist die geplante Reform ein Schritt in die richtige Richtung. Oliver Stettes, Arbeitsmarktexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln: „Der Gesetzgeber schafft einen größeren Handlungsspielraum, innerhalb dessen Arbeitnehmer und Arbeitgeber Regelungen aushandeln können. Besonders bei Büroarbeiten dürfte sich das auszahlen.“ Auch der Mittelstandsverband BVMW und die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) sprechen sich klar für ein neues Arbeitszeitgesetz aus. BVMW-Chef Christoph Ahlhaus sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): „Eine Modernisierung des Arbeitszeitgesetzes ist aus Sicht des Mittelstandes überfällig. Viele Mitarbeiter fordern schon lange flexible Modelle für die eigene Arbeitszeit – statt starrer Stempelschichten im Acht-Stunden-Rhythmus. Auch viele Arbeitgeber wünschen sich mehr Beinfreiheit in Sachen Arbeitszeit, um endlich flexibler auf schwankende Auftragslagen reagieren zu können.“

Gerade in international agierenden Firmen, in denen Teams über mehrere Zeitzonen hinweg zusammenarbeiten, sei die tägliche Begrenzung häufig hinderlich. Besonders Startups und Tech-Firmen sehen die Vorteile, wenn der starre Achtstundentag kippen würde: Die Möglichkeit, Arbeit je nach Auftragslage und individueller Produktivität zu verteilen, könnte zu mehr Effizienz und Zufriedenheit führen. Doch wie sieht es beim Handwerk aus? Die Tischlerei Spatzier in Brandenburg fährt seit eineinhalb Jahren ein Modell mit flexiblen Arbeitszeiten. Die wöchentliche Arbeitszeit liegt bei 37,5 Stunden bei vollem Lohn und voller Flexibilität. Ihr Chef Jörg Spatzier: „Im täglichen Arbeitsablauf ist diese Flexibilität allerdings eher hinderlich, zum Beispiel bei der Terminierung von Kundenterminen. Aus heutiger Sicht würden wir gerne wieder zu einer festen Arbeitszeit am Tag zurückkehren. Ich glaube, es gibt Bereiche, da funktioniert unser Modell sehr gut, aber im Handwerk ist es schwierig.“
 

Sorge um den Gesundheitsschutz

Der Deutsche Gewerkschaftsbund und Einzelgewerkschaften wie Verdi lehnen die Abschaffung des Achtstundentages entschieden ab und warnen davor, dass eine Aufweichung der täglichen Grenzen schleichend zu einer Ausweitung der tatsächlichen Arbeitszeit führen könnte. „Was als Flexibilität verkauft wird, ist in der Praxis oft Druck zur Verfügbarkeit“, heißt es aus Gewerkschaftskreisen. Der Schutz der Gesundheit sei untrennbar mit klaren Arbeitszeitbegrenzungen verknüpft. Mediziner unterstützen diese These. Studien zeigen, dass lange Arbeitstage mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Burn-out und Schlafstörungen verbunden sind. Auch die Unfallgefahr steige signifikant nach mehr als neun Stunden Arbeit pro Tag. Der Ärzteverband Marburger Bund: „Die gesetzlichen und tariflichen Regelungen sind Maßnahmen zum Schutz, die bewahrt werden müssen.“ Der Marburger Bund verweist darauf, dass es im Arbeitszeitgesetz schon jetzt einige Ausnahmen gebe, mit denen es möglich sei, die tägliche Höchstarbeitszeit auch auf Basis tarifvertraglicher Regelungen zu überschreiten. 

Auch juristisch wie organisatorisch wäre es komplex, die Reform umzusetzen. Die Unternehmen müssten dafür die Erfassung der Arbeitszeit neu gestalten, geltende Betriebsvereinbarungen anpassen oder neue Regeln zum Einhalten von Ruhezeiten erlassen.
 

Zwischen Freiheit und Verantwortung

Die geplante Umstellung von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit ist ein Spiegelbild der aktuellen Arbeitswelt: Diese braucht dringend mehr Flexibilität, ohne bewährte Schutzmechanismen aufzugeben. Das Vorhaben birgt Chancen, aber auch erhebliche Risiken. Entscheidend wird sein, ob die neuen Regeln beiden Seiten gerecht werden: der Forderung nach Selbstbestimmung wie dem Recht auf Erholung. Die Berliner Koalition ist gefordert, hier einen gangbaren Mittelweg zu finden – und das schnell.


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Matthias Techau
Bildnachweis: Getty Images



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