Lieferketten: Umdisponieren auf lange Sicht
Unternehmen reagierten auf die anhaltenden Lieferengpässe mit mehr Lagerhaltung und Akquise neuer Lieferanten. Aber auch Recycling oder Tausch von Materialien erweisen sich als Lösungen, um den Betrieb am Laufen zu halten. Wie Firmen ihre Beschaffung in der Lieferkrise neu aufgestellt haben.
Die Situation entspannt sich. Zumindest belegen dies aktuelle Zahlen des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Im Mai 2023 berichteten noch 35,3 Prozent der befragten Unternehmen von Materialengpässen, nach 39,2 Prozent im April. Zum Vergleich: Im Dezember 2021 klagten satte 89,1 Prozent der befragten Firmen aus der Industrie über eine Krisensituation – das war laut Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) der Höchststand.
Weiterhin Engpässe bei Komponenten
Es wird besser, die Lieferketten sind größtenteils wieder intakt. „Unter anderem waren die Häfen in China wegen der Corona-Maßnahmen geschlossen“, erklärt Klaus Wohlrabe, Leiter Umfragen beim Ifo-Institut in München. Das ist vorüber. Nicht zuletzt haben sich die Unternehmen selbst geholfen. „Sie schauten sich nach alternativen Zulieferern um. Wo es möglich war, sind sie jetzt im Einsatz.“ Andere Unternehmen substituierten in der Produktion und setzten auf recycelte Materialien, um ihren Bedarf zu decken. Einige Betriebe orderten auch bei Zwischenhändlern, teilweise arbeiteten sie mit Material ohne Zertifizierungen. „Das akzeptierten die Kunden in der Lieferkrise“, sagt Götz-Andreas Kemmner, Geschäftsführer der auf Beschaffung spezialisierten Beratungsgesellschaft Abels & Kemmner in Herzogenrath bei Aachen. Überdies haben viele Unternehmen ihre Lagerhaltung aufgestockt. Den Nachteil der hohen Kapitalbindung nehmen sie zwangsläufig in Kauf. „Keine Vorprodukte für die Produktion zu haben, kostet im Zweifel noch mehr Geld“, kommentiert Ifo-Experte Wohlrabe.
Allerdings hat sich die Situation nicht flächendeckend entspannt. Zudem droht mit dem niedrigen Wasserstand des Panamakanals erneut ein Nadelöhr des Welthandels blockiert zu werden. „Die Engpässe sind teilweise weiterhin gravierend“, sagt Nils Jannsen vom IfW Kiel. Insbesondere die Automobilindustrie und die Maschinenbauer klagen über Produktionsbehinderungen. „Vor allem bei elektronischen Komponenten ist eine hohe Nachfrage zu verzeichnen, sodass es dort immer noch Nachschubprobleme gibt“, bestätigt Wohlrabe. Aber man muss differenzieren: Infolge der Pandemie konnten einige Unternehmen ihren Produktionsfahrplan nicht einhalten, weshalb diese entgegen dem Trend zu viele Halbleiter beziehungsweise Chips auf Lager haben. Ohnehin sind die Bestände im Markt ungleich verteilt. Grund ist, dass die Unternehmen seit der Lieferkrise bewusst mehr bestellt haben, als sie tatsächlich brauchen – in der Hoffnung, dass die Hersteller sie wenigstens mit einer gewissen Mindestmenge beliefern. Daher haben viele Firmen in Teilen Überbestände, während sie bei anderen Komponenten unterversorgt sind.
Mit neuer Tauschplattform gegen Lieferkettenprobleme
Genau hier setzt eine neue Plattform an. Seit Dezember vergangenen Jahres bringt Wavetrade standardisiert Nachfrage und Angebot im Bereich Halbleiter und passiver Bauelemente zusammen. Die Plattform sortiert etwa, wer wie viele Chips gelagert hat und bei wem sie zu einem bestimmten Zeitpunkt fehlen. Die teilnehmenden Unternehmen – Zulieferer wie Hersteller – können sich austauschen und gegenseitig mit den benötigten Stückzahlen versorgen. „Wavetrade basiert auf unserer Software One Data, die mit dem Einsatz Künstlicher Intelligenz arbeitet“, sagt Andreas Böhm, Gründer und Geschäftsführer des Softwareherstellers One Data, der Wavetrade betreibt. Mithilfe der Software findet ein automatisierter Abgleich der Daten hinsichtlich Konsistenz, Qualität und Duplikaten statt.
Die Plattform selbst besitzt keine Komponenten, sie versteht sich als Vermittler. „Wir sind auch kein Broker“, so Böhm. Im Prinzip handelt es sich um eine reine Tauschplattform. Die Mitglieder können Suchanfragen starten oder ihre Angebote veröffentlichen. Der Plattform-Algorithmus prüft dann die Manufacturer Part Number (MPN) – sie entspricht der Identifikationsnummer, die der Hersteller seinen einzelnen Produkten zuweist – und gleicht diese mit den Komponenten-Listen der Plattformnutzer ab. Die Anbieter erhalten eine anonyme Suchanfrage, damit sich keiner Wettbewerbsvorteile verschaffen kann. Es obliegt dem Unternehmen, ob es antwortet oder ob es den Kontakt ablehnt. Zudem hat das Kartellamt das gesamte System freigegeben. Im nächsten Schritt erhält das anfragende Unternehmen alle Angebote und wählt aus, welches es nutzen möchte. Danach steigen die Parteien in eine direkte Verhandlung ein. „Erst ab diesem Zeitpunkt lösen wir die Anonymität auf“, sagt Böhm. In der Regel legen die Parteien fest, dass der Anbieter die abgegebene Menge vom Abnehmer zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zurückbekommt. Für den Service zahlen die Nutzer eine monatliche Grundgebühr und eine Einmalzahlung für die Implementierung sowie eine Gebühr pro Trade. „Die Kosten liegen erfahrungsgemäß weit unter dem, was Zulieferer in kritischen Versorgungslagen bei Brokern für Halbleiter zahlen müssen. Hier beträgt der Preis teilweise das 200-Fache des Üblichen“, sagt Böhm. Der Return on Investment (ROI) sei daher fast immer nach dem ersten Trade erreicht.
Bilaterale Tauschgeschäfte
Thomas Frei, Vice President Sales, Inventory & Operations Planning (SIOP) bei Harman Automotive, bestätigt das. Das global agierende Unternehmen mit Sitz unter anderem in München zählt zu den führenden Zulieferern für vernetzte Infotainmentsysteme im Auto. Entsprechend arbeitet Harman mit großen Stückzahlen im Bereich Hightech. Frei braucht Chips, die hohe Qualitätsanforderungen erfüllen. „Wavetrade ist für uns eine perfekte Lösung. Wir konnten unsere Beschaffung zu guten Konditionen deutlich verbessern“, sagt Frei. Früher kommunizierte er per WhatsApp am Wochenende regelmäßig mit CEOs und Führungskräften anderer Unternehmen, um sich Halbleiter zu beschaffen. „Das war mit einem immensen manuellen Aufwand verbunden.“
Durch Wavetrade entfällt dieser Mehraufwand. Die Plattform bietet ihm die Option, datenbasiert Chips zu tauschen. „Wir sehen ein großes Potenzial, vor allem wenn noch mehr Unternehmen mitmachen. Wir führen dazu Gespräche, auch mit großen Automobilkonzernen“, berichtet Frei. Schließlich wird es immer Unternehmen geben, die zeitweise hohe Bestände haben und andere, denen eben Komponenten fehlen – unabhängig von den aktuellen Lieferengpässen. Die KI-Plattform könnte daher auch für weitere Branchen interessant werden. Seitens One Data ist geplant, sie in den kommenden Monaten auszuweiten. Zielgruppe sind im nächsten Schritt wohl die Maschinenbauer.
INTERVIEW
„Auf Krisen kann man sich kaum vorbereiten“
Götz-Andreas Kemmner, Geschäftsführer der Beratungsgesellschaft Abels & Kemmner in Herzogenrath, über aktuelle Risiken bei der Beschaffung.
Die Situation hat sich verbessert, aber es gibt noch Engpässe. Was sind gängige Lösungen, diesen zu begegnen?
Man darf sich nicht mehr von einzelnen Lieferanten abhängig machen. Die Zeiten der Konzentration, um sich die günstigsten Konditionen zu sichern, sind vorbei. Das heißt, die Unternehmen müssen die Beschaffungsmärkte neu sortieren und die Zusammenarbeit mit jedem Lieferanten prüfen.
Wo sehen Sie aktuell die größten Risiken?
Der Wirtschaftskrieg zwischen China und den USA ist seit dem Chip-Embargo eröffnet. Inzwischen ist auch Deutschland involviert – und es steht zu befürchten, dass sich die Situation verschärft. Deshalb stellt sich jetzt für Unternehmen die Frage, wie stark sie betroffen sein können – wie abhängig sie von Lieferungen aus diesen Regionen sind. Der chinesische Markt kann sporadisch oder sogar dauerhaft wegbrechen. Dessen sollten sich Unternehmer bewusst sein.
Wie können Unternehmer reagieren?
Sicherlich können sie ihre Lagerkapazitäten noch ausweiten, also mehr Vorräte halten. Aber das sichert nur vorübergehende Unterbrechungen in den Lieferketten. Sie sollten versuchen, sich vom chinesischen Beschaffungsmarkt etwas unabhängiger zu machen – zum Beispiel durch Zweitlieferanten in anderen Regionen Südostasiens. Auf spontane Krisen mit geringer Wahrscheinlichkeit, aber großen Auswirkungen – wie wir sie mit Corona und dem Überfall auf die Ukraine erlebten – kann man sich kaum vorbereiten. Wenn die Krisenwahrscheinlichkeit drastisch zunimmt, wie dies für Versorgungsprobleme zumindest für kritische Güter aus dem Beschaffungsmarkt China gilt, muss man schnell reagieren.
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Eva Neuthinger
Bildnachweis: C. Onurdongel / Getty Images
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